„Orangen süß-bitter. Oder wie Sklaverei sich auch in Europa breit macht“

Die Produkte aus Zwangsarbeit, Ausbeutung und menschenverachtenden Arbeitsbedingungen halten wir tagtäglich in den Händen. Die 6-teilige Veranstaltungsreihe „Ziel: Lieferketten mit Verantwortung“ von mehr Wert! e.V. klärt auf und gibt Ausblicke.

Ein Nachbericht zur ersten Veranstaltung zum Thema „Orangen“.

Sklaverei ist ein Thema der Vergangenheit?! Das ist die Ansicht vieler Menschen in Deutschland. Bei der Veranstaltungsreihe „Ziel: Lieferketten mit Verantwortung“ von dem Saarbrücker Verein „mehr Wert!“, die am Montag mit dem Thema „Orangen“ begann, wird etwas anderes deutlich. Drei von vier Gläsern Orangensaft stammen aus Betrieben mit illegalen, unterbezahlten Arbeitern, ohne ausreichende gesundheitliche Versorgung, eigene Wohnung oder sanitäre Anlagen. Wenn wir im Supermarkt Obst oder Gemüse wie Orangen, Mandarinen, Tomaten und anderes kaufen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir damit ein Wirtschaftssystem unterstützen, welches auf der Ausbeutung von Menschen basiert. Wie es zu diesen ausbeuterischen Zuständen kommt und was passieren muss, um Missstände zu verhindern und aufzudecken, damit beschäftigt sich der Verein mehr Wert! In weiteren fünf Online-Veranstaltungen am 10., 13., 14., 15. und 16. Dezember jeweils online 18 bis 20 Uhr, außer der Veranstaltung am Mittwoch, 15. Dezember im Rahmen der Reihe „Cinema for Future“ im Filmhaus Saarbrücken.

Am Montag teilten gleich drei hochkarätige Referent*innen ihr Wissen mit den Teilnehmenden. Gilles Reckinger, Ethnologe und Buchautor („Bittere Orangen“) zeigte die Wege der zum Großteil aus afrikanischen Ländern über Lampedusa geflüchteten, „gesichtslosen“ Menschen auf. In Kalabrien besuchte er mehrere Slums, um mit den Arbeitern in Kontakt zu kommen.

„Dass sie überhaupt überleben können, geschieht, weil sie sehr solidarisch untereinander sind. Viele unterschiedliche Länder, Religionen, Sprachen. Das interkulturelle Zusammenleben funktioniert sehr gut.“ (Gilles Reckinger)

Zwangsarbeit (oder Sklaverei, wie Gilles Reckinger sie nennt), ist eine Steigerung der Ausbeutung. Sie entsteht durch den Umstand, dass die vulnerable Situation der Flüchtlinge (Aufenthaltsstatus, Armut, Ausgrenzung/Marginalisierung bzw. soziale Isolation) von Plantagenbesitzern wie Importeuren ausgenutzt wird, sodass sie gezwungen sind, für Hungerlöhne weit unter den sonst üblichen Löhnen zu arbeiten. Sie verdienen so wenig, dass sie weder weiterggehen können, noch zurück in ihre Heimat. Die Plantagenbesitzer wiederum können dem Weltmarkt sowieso nur mit diesen Arbeitkräften standhalten. Der Preisdruck von Supermarktketten ist groß. Eine Kiste Orangen bringt 50 Cent. „Das bildet sich im Preis, den wir im Supermarkt zahlen gar nicht mehr ab.“ Die Arbeiter sparen sich dabei Woche für Woche noch ein paar Cent vom Mund ab, um es der Familie in der Heimat zu schicken.

Eva-Maria Reinwald vom Institut Südwind zeigte auf, welche Bemühungen es in der Politik gibt, um solche Zustände zu verhindern, wie das italienische Anti-Sklaverei-Gesetz, das festhält, dass Arbeitgeber für Missstände haften. Infolge gab es Kontrollen bei Agrarbetrieben, aber hier mangelt es personellen Ressourcen. Die Bemühungen reichen noch nicht aus, um Arbeitsbedingungen wirksam zu verbessern. Die Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen betonen die Verantwortung der Unternehmen für eine menschenrechtliche Sorgfalt in ihrer Geschäftstätigkeit. Dies beinhaltet, dass  Unternehmen eine entsprechende Grundsatzerklärung öffentlich machen, menschenrechtliche Risiken in ihren Lieferketten ermitteln und Analysetools in ihren Strukturen verankern müssen und ggf. geeignete Maßnahmen ergreifen müssen, wenn sie Risiken in ihren Lieferketten erkennen. Zu der Sorgfaltspflicht gehört auch, dass die Unternehmen über ihre Bemühungen berichten, Beschwerdemechanismen für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einrichten und ggf. Abhilfe schaffen müssen..

„Unternehmen müssen reflektieren, was ihr Beitrag dazu ist, dass die Ausbeutung weiterhin so stattfindet. So können sie Druck auf die Lieferkette ausüben“, so Reinwald.

Missstände seien hinlänglich bekannt. Als politische Perspektive nennt sie das Lieferkettengesetz mit der Pflicht zur menschlichen Sorgfalt, welches ab 2023 für Unternehmen ab 3000 Mitarbeitenden und 2024 für Unternehmen ab 1000 Mitarbeitenden in Kraft tritt. Diese müssen sich aber nur verantworten, wenn sie schon konkrete Hinweise auf Missstände hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden bei nachgeordneten Lieferanten haben. Betroffene können Hinweise an Behörde leiten, aber selbst nicht klagen. Perspektivisch sollte die Vergabe von Fördermitteln, bspw. der EU an Plantagenbetreiber und Landwirte daran geknüpft sein, dass sie sich an Vorgaben halten.

Dominik Groß, Campaigner bei „Our Food. Our Future“ und Referent bei der christlichen Initiative Romero stellte als Ausblick seine Kampagne vor, die Einfluss auf politische Prozesse nehmen möchte. Die Aufklärung der Konsumenten steht hier nicht im Vordergrund, die Kampagne zielt eher auf politische Prozesse: Gespräche suchen mit Politikern vor Ort, Personen und insbesondere Jugendliche unterstützen, die sich einbringen möchten. Hinzu kommt die Zusammenarbeit mit Partnern aus dem Süden, Reisen mit Menschenrechtsverteidigern aus dem Globalen Süden, aber auch aus europäischen Ländern und die Organisation von Treffen mit politischen Entscheidungsträgern. Die Kampagne will dem Verbraucher einen fairen und nachhaltigen Einkauf von Lebensmitteln ermöglichen und eine Markttransparenz herstellen. Zwar gebe es einen Trend zu fairem Einkauf und Bewusstsein von Konsumentinnen, um die Problematik aber ernsthaft anzugehen, brauche es stärkere Instrumente, als der Apell an die Verantwortung der Konsumentinnen. Die drastische Situation verdeutlicht sich, als er von der Studie „We world“ in Italien zu Menschenrechtsverletzungen im Gemüseanbau berichtet (80% der Erträge gehen nach Deutschland). Die Macher*innen der Studie stehen unter Polizeischutz.

„Ein Europäisches Lieferkettenschutz-Gesetz wäre gut, was deutsche Fehler ausbügelt.“, so die Hoffnung. „Oder, dass die Koalitionäre sich zusammensetzen und das deutsche Lieferkettengesetz nachbessern.“

Interessierte können sich jetzt schon stark machen im Rahmen einer Protestmailaktion (Link hier), die sich an verantwortliche EU-Kommissarinnen und Kommissare richtet, und zeigen, dass wir wissen, was ein gutes Gesetz braucht und dass gerade für den Agrarsektor bestimmte Inhalte besonders wichtig sind: ein besonderer Schutz von Migrant*innen und Frauen und das Schließen von Lücken, sodass die gesamte Lieferkette eingeschlossen.

Weitere Termine der Veranstaltung bis zum 16. Dezember 2021 und Anmeldung.

Mehr Infos: www.ourfood-ourfuture.eu, www.ci-romero.de, Veranstaltungen von mehr Wert!, zum Buch „Bittere Orangen“ von Gilles Reckinger und das Factsheet Ausbeutung im italienischen Orangenanbau von Eva-Maria Reinwald.